
Wir teilen miteinander den Raum
Im Sommerurlaub in Italien haben wir einmal eine Frankfurter All-gemeine Zeitung gekauft. Und prompt steht da ein Artikel über Bohmte drin: 10 Jahre „Shared Space“. Wir lesen Aussagen vom Bürgermeister und von Anwohnern – eine schöne Überraschung so fern von zu Hause.
Der „Shared Space“ (ausgesprochen: schärd späiß), der geteilte und gemeinsam genutzte Raum ist immer noch etwas Besonderes. In der Zeitung stehen einige Beobachtungen im Straßenverkehr: Wie die Verkehrsteilnehmer auf einander reagieren, wie überrascht sie manchmal sind und wie oft die Hupe benutzt wird. Mit der Ampel an der Kreuzung soll es früher wohl auch nicht besser oder sicherer gewesen sein.
Hier ein paar eigene Beobachtungen im Straßenverkehr von mir: Im „Shared Space“ gibt es Anfänger und Fortgeschrittene. Manche Anfänger sind sehr verunsichert und bremsen stark ab. Sie wissen erst mal gar nicht, was los ist und versuchen, das unbekannte System zu verstehen. Manche bleiben sogar stehen und wissen gar nicht mehr weiter. Aus den Gesichtern und Zeichen der anderen Autofahrer können sie sich erschließen, was sie tun sollen.
Dann gibt es die Fortgeschrittenen: Sie nehmen einfach den kürzesten Weg – links an der Mitte vorbei. Andere schütteln darüber den Kopf.
Jetzt kam mir der Gedanke, ob dieser „Shared Space“ nicht ein Bild für unser Zusammenleben im Allgemeinen sein kann. Unsere Begegnungen im Alltag, auf der Arbeit, in der Schule und in den Familien lassen sich damit vergleichen: Die Ampeln werden abgeschafft. Das sind die eindeutigen Regeln für das Zusammenleben – sie lösen sich auf. Vieles muss jetzt im Blickkontakt herausgefunden und ausgehandelt werden. Zum Beispiel die Formen, wie Menschen heute als Familien zusammenleben. Es gibt noch die Großfamilie, in der mehrere Generationen unter einem Dach leben. Es gibt aber auch viele Menschen, die allein in ihrer Wohnung leben – Junge und Alte. Es gibt die neu zusammengesetzten Familien, in die jeder Partner Kinder aus einer früheren Beziehung mitbringt. In manchen Familien sind Kinder nur alle 14 Tage am Wochenende mal da und sonst bei dem anderen Elternteil.
Wie im „Shared Space“ sind wir darauf angewiesen, immer wieder neu unser Zusammenleben zu regeln, auszuhandeln oder nach Gefühl zu erfassen. Ich finde, wir machen das ganz gut. Wir haben ja auch schon viel Erfahrung damit. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Flüchtlinge aus dem Osten und brachen die konfessionellen Grenzen auf: Evangelische mussten mit katholischen Vertriebenen zurechtkommen und umgekehrt. Dann kamen Gastarbeiter: Italiener, Türken, Griechen. Viele blieben bis heute und leben schon in der dritten oder vierten Generation hier. Dann kamen die Aussiedler. Dann kamen die Flüchtlinge 2015. Und das sind nur ein paar Schlaglichter auf die Migration in Deutschland.
Und wenn es keine Migration gegeben hätte, würden wir auch nicht mehr leben wie vor 100 Jahren! Wir haben auch aus eigener Kraft die gesellschaftlichen Regeln verändert und die „Ampeln“ abgeschafft: die eindeutigen Regeln. Der gesellschaftliche Wandel wäre auch ohne Migration gekommen. Viele Konflikte, die wir heute erleben, sind wie die Begegnungen im „Shared Space“, wo es keine eindeutigen Regeln mehr gibt.
Und die Kirche Jesu Christi ist immer auch ein Spiegelbild dieser Wandlungen. S ie wandelt sich mit den Menschen. So werden heute neben den bekannten Chorälen Lieder aus England oder Spanien gesungen. Und der Rhythmus ist mal klassisch und mal latein-amerikanisch, mal Pop und mal Gospel.
„Shared Space“ ist auch ein passendes Bild für die Kirche. Wir teilen den Raum vor Gott miteinander. Andere sind da und bringen ihre Wünsche und Vorstellungen mit. Sie bereichern und erneuern das Leben der Gemeinden. Da sind nicht immer alle begeistert. Auch in der Kirche gibt es Anfänger und Fortgeschrittene, die sich manchmal verblüfft oder kritisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Ihnen allen gilt der Ratschlag des Apostels Paulus: „Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“ (1.Kor 16,14) Mit Liebe betrachtet, sieht die Welt gleich ganz anders aus.
PS für alle Nicht-Kirchgänger: Gehen Sie doch mal wieder in der Gottesdienst Ihrer Gemeinde und lassen Sie sich überraschen, wie es da jetzt zugeht und was sich gewandelt hat seit Ihrem letzten Besuch!
Hartmut Weinbrenner, Bohmte